Fluechtige Gesichter in der Nacht (Pascal Mercier)
Begegnungen zwischen Menschen sind, so will es mir oft scheinen, wie das Kreuzen von besinnungslos dahinrasenden Zügen in tiefster Nacht. Wir werfen flüchtige, gehetzte Blicke auf die Anderen, die hinter trübem Glas in schummrigem Licht sitzen und aus unserem Blickfeld wieder verschwinden, kaum dass wir Zeit hatten, sie wahrzunehmen. Waren es wirklich ein Mann und eine Frau, die da vorbeiflitzten wie Phantasmata in einem erleuchteten Fensterrahmen, der aus dem Nichts auftauchte und ohne Sinn und Zweck hineingeschnitten schien in das menschenleere Dunkel? Kannten sich die beiden? Haben sie geredet? Gelacht? Geweint? Man wird sagen: So mag es sein, wenn fremde Spaziergänger in Regen und Wind aneinander vorbeigehen; da mag der Vergleich etwas für sich haben. Aber vielen Leuten sitzen wir doch länger gegenüber, wir essen und arbeiten zusammen, liegen nebeneinander, wohnen unter einem Dach. Wo ist da die Flüchtigkeit? Doch alles, was uns Beständigkeit, Vertrautheit und intimes Wissen vorgaukelt: Ist es nicht eine zur Beruhigung erfundene Täuschung, mit der wir die flackernde, verstörende Flüchtigkeit zu überdecken und zu bannen suchen, weil es unmöglich wäre, ihr in jedem Augenblick standzuhalten? Ist nicht jeder Anblick eines Anderen und jeder Blickwechsel doch wie die gespenstisch kurze Begegnung von Blicken zwischen Reisenden, die aneinander vorbeigleiten, betäubt von der unmenschlichen Geschwindigkeit und der Faust des Luftdrucks, die alles zum Erzittern und Klirren bringt? Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab, wie in der rasenden Begegnung des Nachts, und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen, Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften? Ist es nicht in Wahrheit so, dass nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?
(Auszug aus dem Buch von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon")

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