Einsamkeit (Pascal Mercier)
Ist es so, dass alles, was wir tun, aus Angst vor Einsamkeit getan wird? Ist es deswegen, dass wir auf all die Dinge verzichten, die wir am Ende des Lebens bereuen werden? Ist das der Grund, weshalb wir so selten sagen, was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all diesen zerrütteten Ehen, verlogenen Freundschaften, langweiligen Geburtstagsessen fest. Was geschähe, wenn wir all das aufkündigten, der schleichenden Erpressung ein Ende setzten und zu uns selbst stünden, wenn wir unsere geknechteten Wünsche und die Wut über ihre Versklavung hochgehen ließen wie eine Fontäne? Denn die befürchtete Einsamkeit - worin besteht sie eigentlich? In der Stille ausbleibender Vorhaltungen? In der fehlenden Notwendigkeit, mit angehaltenem Atem über das Minenfeld ehelicher Lügen und freundschaftlicher Halbwahrheiten zu schleichen? In der Freiheit, beim Essen niemandem gegenüberzuhaben? In der Fülle der Zeit, die sich auftut, wenn das Trommelfeuer der Verabredungen verstummt ist? Sind das nicht wundervolle Dinge, ein paradiesischer Zustand? Weshalb also die Furcht davor? Ist es am Ende eine Furcht, die nur besteht, weil wir ihren Gegenstand nicht durchdacht haben? Eine Furcht, die uns von gedankenlosen Eltern, Lehrern und Priestern eingeredet worden ist? Und warum sind wir eigentlich so sicher, dass uns die anderen nicht beneideten, wenn sie sähen, wie groß unsere Freiheit geworden ist und dass sie daraufhin unsere Gesellschaft suchten?
Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier

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